Noch ein besonderer Einstein

Mein momentaner Wohnort Colorado Springs war einst auch Wohnort eines Cousins Albert Einsteins dritten Grades. Dr. Otto Einstein wurde 1876 in Hechingen geboren, machte 1995 sein Abitur in Ulm und schloß 1900 sein Medizinstudium an der Universität Tübingen ab. Er praktizierte 35 Jahre in Stuttgart als Kinderarzt, bevor es ihm im April 1939 in letzter Minute gelang, Hitlers antisemitischem Völkermord zu entkommen. Einige seiner Kinder verließen Deutschland in den frühen 1930ern, aber er entschied sich zum Bleiben, um weiterhin seine jüdischen Patienten zu betreuen. Wie andere jüdische Ärzte auch, hatte Dr. Einstein im ersten Weltkrieg als Freiwilliger gedient, und noch im Jahre 1935 erhielt er eine Ehrenmedaille, die ihn wahrscheinlich eine Zeitlang schützte, obwohl er 1938 zum Krankenpfleger zurückgestuft, und aus der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde gestrichen wurde.

Nachdem Dr. Einstein mit seiner Frau Jenny und seinem jüngsten Sohn vom gedeckten Abendbrottisch flohen, war Nicaragua ihr erster Zufluchtsort. Dr. Einstein arbeitete neun Monate lang in einem Missionskrankenhaus der Böhmischen Brüder, während sie auf ein Visum für die Einreise in die USA warteten. Albert Einstein reichte eine handschriftliche Bitte für seine Einreisegenehmigung an die Behörden. Nach deren Ausstellung erreichten die Einsteins im März 1940 ihre neue Heimat über den Hafen in New Orleans. Sie lebten zwei Jahre lang in Denver, wo ihr ältester Sohn als Mediziner beschäftigt war. Otto arbeitete als Assistenzart am National Jewish Hospital, einem Fachkrankenhaus für Tuberkulose. Colorado war eine der Gegenden, wo Schwindsüchtige wegen des angeblich vorteilhaften Klimas Heilung suchten, und Dr. Einstein begann seine Karriere als Tuberkulosespezialist mit 64 Jahren, einem Alter, in dem die meisten ihren Ruhestand zumindest erwägen.

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Gedenktafel am Ort des ehemaligen Modern Woodmen of America Sanatoriums

1942 zog er nach Colorado Springs, wo er bis 1947 am Sanatorium einer Versicherungsgesellschaft (Modern Woodmen of America) tätig war. Danach widmete er seine restlichen Lebensjahre der Behandlung von Patienten am Cragmor Sanatorium. Diese Klinik öffnete 1905/06 ihre Türen für betuchte Kranke, fungierte jedoch ab 1952 als Heilanstalt für an Tuberkulose leidende Navajo Frauen aus Arizona, die mit den neuerdings entdeckten Antibiotika geheilt werden sollten. Patienten und Kollegen beschrieben Dr. Einstein als sanften und fürsorglichen Arzt, dem das Wohl seiner Patienten stets am Herzen lag. Obwohl es wegen seines deutschen Akzentes einige Kommunikationsprobleme mit den Navajo gab, verständigten sie sich irgendwie.

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Das ehemalige Cragmor Sanatorium, das heute Hauptgebäude der University of Colorado Colorado Springs (UCCS) ist

Immer seinen Prinzipien treu, beharrte er darauf, für Medikamente zum Eigengebrauch zu zahlen, sowie ungestempelte Briefmarken zu zerreißen. Er bildete sich zeitlebens weiter und studierte Themen so divers wie Medizin und vergleichende Religionswissenschaften. Er war Mitglied im Tempel Beth-El, der reformierten jüdischen Gemeinde in Colorado Springs. Dort hielt er eine Lobesrede für Albert, als dieser im Jahre 1955 verstarb. Fünf Jahre davor ließ er sich in einem Artikel der Lokalzeitung, der Colorado Springs Gazette Telegraph, über Kindheitserinnerungen mit Albert in Deutschland sowie über Besuche bei dem bekannten Physiker in Princeton aus, dessen Ehefrau Elsa auch eine Cousine Jennys war. Nach Dr. Einsteins Tod im Jahre 1959 durch Herzinfarkt im Alter von fast 83 Jahren wurde er auf dem jüdischen Friedhof Sons of Israel beigesetzt, der neben dem Evergreen Friedhof von Colorado Springs liegt.

Dr. Einstein hinterließ seine Frau Jenny, zwei Söhne, Robert und Georg, zwei Töchter, Lisa und Eva, sowie einen Sohn, Hans, aus Jennys erster Ehe. Obwohl alle inzwischen verstorben sind, leben noch viele seiner Enkel und deren Nachkommen.

Ich machte Dr. Einsteins Bekanntschaft in einem Buch über das Cragmor Sanatorium, Asylum of the Gilded Pill, von UCCS Professor Douglas R. McKay. Während der Erforschung hiesiger Friedhöfe traf ich auf Dr. Einsteins ungewöhnlichen Grabstein, der mich noch neugieriger auf ihn stimmte. Die Trauerrede seines Rabbiners führte mich zu den Synagogen vor Ort, wo mich eine sehr zuvorkommende Sekretärin mit Dr. Perry Bach in Verbindung setzte, der mit der Fertigstellung einiger Bücherbände über die jüdische Geschichte in Colorado Springs beschäftigt ist (Jewish Colorado Springs). Er war sehr liebenswürdig, tauschte Informationen mit mir aus und vermittelte mir Kontakt mit einem Verwandten von Dr. Einstein in Denver, dem Architekten Alan Gass, der einige Wissenslücken schloß und der auch seinen Grabstein entworfen hatte. Während meines Besuches in Stuttgart letzten Herbst wurde ich auch einiger weiterer Quellen über sein Leben in Deutschland fündig.

Diese kurze biographische Skizze will ein wenig Licht auf einen außergewöhnlichen Mann werfen, dessen bemerkenswertes Leben besser bekannt sein sollte.

Klicken Sie bitte hier für die englische Version/click here for the English version:

https://tanjabrittonwriter.wordpress.com/2017/02/22/another-amazing-einstein/

3 Gedanken zu “Noch ein besonderer Einstein

    • Hallo Frau Schimmel (Britton). Ich sitze gerade mit meinen 11-jährigen Zwillingsmädchen bei meiner 91-jährigen Mutter im Wohnzimmer in Rutesheim, das ist ca. 20 Kilometer vor den Toren Stuttgarts. Meine Mutter war als Kind Patientin bei Dr. Otto Einstein, der damals seine Praxis in der Friedrichstrasse in Stuttgart hatte. Nach dem Krieg hat meine Mutter Herrn Dr. Einstein Mitte 1958 kontaktiert und er antwortete handschriftlich am 6. Oktober 1958 mit einem 3-seitigen Brief, in dem er seine Geschichte ab Ende 1938 erzählt. Ich habe diesen Brief eben abfotografiert. Falls Sie Interesse daran haben, dann lassen Sie mir einfach Ihre E-Mail-Adresse zukommen.
      Viele Grüße,
      Tilman Hägele

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      • Lieber Herr Hägele,
        ich danke Ihnen für Ihre Nachricht und würde mich sehr über eine Kopie des Briefes freuen. Könnten Sie sie bitte an die folgende Adresse schicken:
        brittonmt@yahoo.com
        Herzlichen Dank, und die allerbesten Wünsche für Sie und ihre Mutter!
        Tanja

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