Berlin

Wer ist einfältig genug, an einem Dienstag Anfang Dezember zu entscheiden, am folgenden Tag mit dem Zug nach Berlin zu fahren, zwei Nächte im Hotel zu übernachten, und drei Tage lang Tourist zu spielen? Und das mit einem Reiseführer aus dem Jahre 1973? Immerhin war es die achte, verbesserte Auflage von 1983!

Es waren mein jugendlicher Optimismus und brennender Wunsch, Deutschlands Hauptstadt, die ich nur als Gruppenreisende von vor über 30 Jahren kannte, nochmals zu besuchen, die mich so vorgehen ließen. Während meiner vorherigen Aufenthalte in Europa hatte ich mir nicht die Zeit genommen, einen solchen Abstecher zu organisieren, und da ich auch dieses mal nicht vorgeplant hatte, entschied ich mich kurzfristig für diese Reise. Wiewohl ich wußte, daß drei Tage (zweieinhalb, um genau zu sein) nicht ausreichen würden, wollte ich doch die Metropole mit ihrer verschlungenen Geschichte wenigstens beschnuppern. Ich bin froh über diese Gelegenheit, doch als mich meine Freundin über meine Eindrücke fragte, erwiderte ich, daß sie gemischt waren. Ich bin noch immer dabei, sie zu verdauen.

Ich kam am Berliner Hauptbahnhof an. Hinter dem Weihnachtskranz ist der deutsche Reichstag zu erkennen.

Blick auf den Fernsehturn auf dem Alexanderplatz beim Überqueren der Spree

Reichstag

Die neue Kuppel des Reichstags wurde 1999 vollendet. Die ursprüngliche wurde bei dem Reichstagsbrand 1933 zerstört. Hitler benutzte das Feuer als Vorwand, die Weimarer Konstitution aufzuheben.

Berlin wurde 1871 Hauptstadt Deutschlands, nachdem Kanzler Bismarcks multiple Machenschaften verschiedene deutsche Regionen und Interessen vereinten. Immensem Wachstum im ausgehenden 19. Jahrhundert folgten intensive Bombenangriffe im zweiten Weltkrieg, und die Teilung in vier, von den Alliierten kontrollierten Sektoren nach Deutschlands Kapitulation. Diese Abtrennung kulminierte in der Konstruktion der Berliner Mauer im Jahre 1961, und die darauffolgende Existenz zweier Parallelwelten, die 27 Jahre dauerte, bis die Mauer 1989 abgerissen wurde, Deutschland sich vereinte, und Berlin wieder zur Hauptstadt gewählt wurde. Da ich Mitte der 90er Jahre von Europa über den Atlantik zog, folgte ich den anschließenden Ereignissen nur aus der Ferne, war aber die ganze Zeit neugierig darauf, die Veränderungen seit der Wiedervereinigung mit eigenen Augen zu sehen.

Brandenburger Tor

Quadriga

Ich erinnerte mich gut an den Beton, Stahl und Stacheldraht, die während meines Besuches Anfang der 1980er Jahre die Stadt in Zwei teilten, West Berlin von der DDR abgrenzten, und bizarrer Ausdruck einer bizarren Situation waren. Wenn das Brandenburger Tor früher Mittelpunkt der geteilten Stadt war, verkörpert es heute das neue Berlin. Das wurde mir klar, als ich ohne Hindernisse an es heran-, und ungehindert durch alle fünf Bögen laufen konnte. Obwohl Teile der Mauer entlang diverser Straßenzüge verteilt sind, und obwohl ehemalige Grenzübergänge und Museen an dieses Kapitel deutscher Geschichte erinnern, hatte ich den Eindruck, daß es etwas war, was das Land größtenteils verarbeitet hat.

Nicht so, was Deutschlands Rolle im ersten und zweiten Weltkrieg angeht, besonders hinsichtlich seiner rassistischen und elitären Ansichten. Sie resultierten in Genozid, und in einem bodenlosen Abgrund voller Schmerz und Tod. Obwohl es unmöglich ist, das begangene Unrecht jemals auszulöschen, hat Deutschland Verantwortung für seine Vergangenheit übernommen, hat Denkmäler errichtet, die an den Mord von Juden, von Sinti und Roma sowie von Homosexuellen im dritten Reich erinnern. Drei Nachkriegsgenerationen waren nötig, um den jetzigen Stand der Dinge zu erreichen, doch existieren weiterhin Strömungen in der deutschen Gesellschaft, die noch immer Hitlers „Errungenschaften“ feiern und seine finsteren, rassistischen Ansichten teilen. Ich hatte schon immer Probleme mit meinem deutschen Erbe, aufgrund der fürchterlichen Vergangenheit meines Geburtslandes: Zwei verheerende Kriege, die den Tod von mindestens 16 Millionen im ersten, und 60 Millionen im zweiten zur Folge hatten. Anders als ein ehemaliger Bundeskanzler kann ich mein Gewissen nicht mit der „Gnade der späten Geburt“ beruhigen.

Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen

Ich schlage mich weiterhin mit der Frage herum, wie diese Nation ihre Erfolge, Einrichtungen und Eliten feiern kann, ohne damit andere Staaten zu erniedrigen, und wiederum ihre Überlegenheit zu behaupten. Deutschland – und Berlin – werden weiterhin Antworten auf die schmerzhaften Fragen von Gestern finden müssen, während sie versuchen, innerliche Spaltungen zu heilen, und den Anforderungen von Heute gerecht zu werden.

Neue Wache an der Strasse unter den Linden. Gedenkstätte, die an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft erinnert.

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https://tanjabrittonwriter.wordpress.com/2018/01/14/berlin/

16 Gedanken zu “Berlin

  1. Es stimmt, noch heute ist es „Marotte“ von vielen Schulen einen Klassenausflug nach Berlin zu machen. Zu meiner Schulzeit gab es das noch nicht. Aber alle meine drei Kinder kamen in diesen „Genuß“. Ob es wirklich was gebracht hat (lehrreich), außer deprimierende Eindrücke, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich selber habe diese Berliner Stätte noch nie besucht. Die Motive auf Deinen sehr schönen Bildern, die Du hier zeigst, sind mir aber trotzdem bekannt (von meinen Kindern). LG Monika

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  2. Margarete Mitscherlich, die große Analytikerin, sprach von der Unfähigkeit der Deutschen zu trauern. Sie hatte sehr recht, wir können nichts ungeschehen machen und auch wir Nachfolge-Generationen sollten das nicht vergessen. Es ist kein Makel, zur eigenen Geschichte zu stehen, sondern Größe. Danke für Deinen reflektierten Beitrag.

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      • Stimmt Tanja, mir war es früher immer peinlich, mich als Deutsche im Ausland zu outen. Besonders ist mir das als 18jährige in Prag so ergangen. Ich bin Jahrgang 1962, da gab es schon einiges aufzuarbeiten und wir hatten sehr engagierte Lehrer, zum Glück möchte ich sagen.

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      • Das Problem hatte ich auch schon öfter, Ira. Aber ich muss auch dazusagen, daß die meisten Menschen eigentlich immer betonen, wie gut es ihnen in Deutschland gefallen hat, und wie sehr die Kultur usw. mögen.

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  3. Ich war zur Zeit des Mauerfalles auch nicht in Deutschland und habe diese Zeit auch nur aus der Ferne verfolgen können (soweit das auf Sri lanka überhaupt möglich war). Noch heute rühren mich Berichte vom Mauerfall zu Tränen – es ist bis heute eine unverarbeitete Emotion geblieben. Wie gerne wäre ich dabei gewesen!

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  4. Schön, dass du die Kurzreise gemacht hast, Tanja.
    Ich bin im Osten geboren und im Westen aufgewachsen.
    Meine Ostdeutsche Verwandschaft, die nur zwei Kilometer hinter der Grenze lebt, konnte ich nur in West Berlin treffen vor dem Mauerbau, danach in Ost Berlin.
    So waren meine Oma aus dem Osten und ich aus dem Westen 1963 zufällig gerade in Berlin, als die Mauer über Nacht gebaut wurde.
    Ich weiß noch, wie verängstigt meine Oma war, sie fürchtete nicht wieder zurück zu können.
    Als die Mauer fiel sind wir sofort in den Osten und weiter nach Berlin gefahren.
    Dort habe ich eigenhändig Mauerstücke abgeschlagen.
    macromondays*broken Pieces of the wall in Germany which came down 1989
    Ein Großteil meiner Familie lebt seit langem in Berlin und ich besuche die Hauptstadt oft.
    Ich LIEBE sie!
    Selbige Oma hat mir übrigens ans Herz gelegt, nicht öffentlich über Politik und Religion zu sprechen. Meistens befolge ich ihren Rat.

    Dir schicke ich liebe Grüße,
    Brigitte

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    • Liebe Brigitte,
      danke, dass Du Deine bewegte Familiengeschichte mit mir geteilt hast. Den Mauerbau und diese ganze Periode persönlich miterlebt zu haben, hat wahrscheinlich Dein Leben sowie das Deiner Familie total geprägt.
      Ich finde den Rat Deiner Oma eigentlich auch gut, aber manchmal hat frau Gedanken, die einfach ausgedrückt werden wollen. Eigentlich sind es ja nur Fragen, auf die ich bisher keine Antwort gefunden habe, für die es vielleicht auch gar keine Antworten gibt.
      Ich grüße Dich auch ganz herzlich,
      Tanja

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  5. Liebe Tanja, ich glaube gerade in diesen spontanen Stippvisiten, in denen man sich ohne Reiseführer treiben lässt, kann man für sich persönlich am meisten mitnehmen. So geht es mir jedenfalls. Schön, dass Du diesen Trip nach Berlin und in Deine Vergangenheit gemacht hast! LG Simone

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