Es ist schwer, dem Sirenengesang von Paris zu widerstehen, wenn ich mich so nahe an seinen Sehenswürdigkeiten befinde. Zwischen meiner Ankunft aus Auxerre, und meiner Abfahrt nach Deutschland habe ich drei Stunden Wartezeit. Die Fahrt zu dem Gare de L’Est in der Metro vermittelt mir bereits das Gefühl, mich in der französischen Hauptstadt zu befinden, wenn auch nur in ihrer Unterwelt. Nichtsdestotrotz entscheide ich mich gegen eine Gepäckaufgabe am Ostbahnhof, und gegen eine Wirbelwindreise durch eine meiner Lieblingsstädte. Ich gebe mich damit zufrieden, Mitreisende, Verkäufer sowie kleine Scharen von Tauben und Spatzen zu beobachten, die immer dort auftauchen, wo Menschen etwas futtern. Beklemmend finde ich die ungewohnte Präsenz von schwer bewaffneten, mit Maschinengewehren umhängten Polizisten, die unsere neue, traurige Realität verkörpern.
Fenster am Gare de L’Est
Ich erinnere mich an vorherige Besuche in der Metropolis am Ufer der Seine. Wann immer ich hier bin, habe ich das Bedürfnis, Eiffelturm, Louvre und Sacré Coeur aufzusuchen, doch bei meinem letzten Aufenthalt vor anderthalb Jahren machte ich mich auch daran, das Leben von Gertrude Stein und dem künstlerischen Zirkel ihres Pariser Salons Anfang des 20. Jahrhunderts zu erkunden. Meine Neugier wurde dank Woody Allens Komödie „Midnight in Paris“ entzündet, und durch die Lektüre von „The Paris Wife“ von Paula McLain gefächert, wobei es um die fiktionalisierte erste Ehe von Ernest Hemingway geht.
Gertrude, eine amerikanische Dauerbürgerin Frankreichs, lebte ein unkonventionelles Leben. Sie war unabhängig, lesbisch, progressiv, und der Moderne zugeneigt. Außerdem erkannte die Kunstsammlerin das Potential diverser Maler wie Paul Cézanne und Henri Matisse, bevor diese Erfolg hatten. Auch Pablo Picasso und Dali verkehrten in ihrem Kreis. Ferner versammelte sie zukünftige schriftstellerische Größen wie Ernest Hemingway um sich, dessen Mentorin sie in seinen frühen Jahren sogar war, obwohl sie sich später überwarfen. Er repräsentiert den typischen „Amerikaner in Paris“, dessen Leben durch das kulturelle Mekka Paris für immer geprägt wurde. Einige seiner Erfahrungen sind in seinem ersten Roman, „The Sun also Rises” (im Deutschen unter dem Titel „Fiesta“ bekannt) verewigt.
Hemingway’s Wohnhaus, 74, Rue du Cardinal Lemoine
Es war inspirierend, die Orte zu besuchen, wo sich diese bahnbrechenden Ereignisse abspielten. Hemingways Wohnung lag auf der selben Straße wie die von James Joyce, der Rue du Cardinal Lemoine, und zwar nur einige Häuser entfernt, was die legendären Trinkgelage der zwei Autoren wohl erleichterte.
Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus Hemingways
Sylvia Beach, die Besitzerin des ursprünglichen Buchladens „Shakespeare and Company“ veröffentlichte Joyces Roman „Ulysses“ unter hohem persönlichen und finanziellen Risiko, weil sich kein Verleger daran traute. Leider sind alle Wohnungen in Privatbesitz, was lediglich die Besichtigung von außen ermöglicht. Eine Ausnahme stellt der Nachfolger des ehrwürdigen Buchladens von Frau Beach dar, der in einer neuen Lage am linken Seineufer auferstand, und der noch immer potentielle Leser und Schriftsteller zum Verweilen, und zum geistigen Austausch mit Gleichgesinnten einlädt.
Shakespeare and Company
Gertrude Stein verfolgte ihre eigenen schriftstellerischen Interessen und veröffentlichte Essays, Gedichte, Schauspiele, und Romane, die hauptsächlich im experimentellen Stil geschrieben sind. In den Werken, mit denen ich mich befasste, fand ich die von ihr angewandte Technik des „Bewußtseinsstroms“ anstrengend, und schlug mehrmals die Hände in Frustration über meinem Kopf zusammen. Weil Gertrude sicher war, daß ihre langjährige Lebenspartnerin nie ihre Lebensgeschichte aufzeichnen würde, schrieb sie „Die Autobiographie von Alice B. Toklas“ selbst, an Alices statt. Weder Gertrude, die im Jahre 1946 starb, noch Alice, die sie um weitere 21 Jahre überlebte, kehrten nach Amerika zurück. Beide sind auf Père Lachaise, dem größten Friedhof von Paris im Kreise vieler begraben, mit denen sie auch im Leben verkehrten.
Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus von Gertrud Stein und Alice B. Toklas
Während mein Zug in den Vororten langsam an Geschwindigkeit zulegt, ist mir etwas wehmütig zumute. Ich kann den Wunsch nachvollziehen, niemals wieder diesen sagenumwobenen Schauplatz verlassen zu wollen. Nichtsdestotrotz: Au revoir, Paris. Au revoir, la France . Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.
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https://tanjabrittonwriter.wordpress.com/2016/10/23/paris-but-not-quite/
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