Die Bella Saga

     Entgegen meiner üblichen Gepflogenheit wähle ich an diesem Morgen eine alternative Route durch unsere Nachbarschaft, und heute beeinflußt diese Entscheidung den restlichen Tagesverlauf. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Vierbeiner, der eine zweite Hundeschnauze durch einen Zaun hindurch beschnüffelt. Ich ringe einen Moment lang mit mir, dann parke ich das Auto am Straßenrand. Vorsichtigen Fußes und mit ruhiger Stimme nähere ich mich der Hündin. Ihr attraktiver, großer und schlanker Körper wird von einem weißlichen Fell umhüllt. Als sie sich nach mir umdreht, starre ich in ein Paar huskyartige Augen. Sie wedelt mit dem Schwanz und läßt mich einen ausgefransten Strick befingern, der ihr um den Hals gewickelt ist. Leider trägt sie weder ein Halsband noch ein anderes Erkennungszeichen. Sobald ich sie an die Leine nehme, folgt sie mir willig, und während wir durch nahegelegene Straßen laufen, halten wir nach ihrem Besitzer Ausschau. Das glänzende Fell und die kurzen Krallen sprechen gegen ein Streunerdasein.

     Meine Suche ist fruchtlos, doch ich erhalte hilfreiche Vorschläge von anderen Hundeliebhabern, und so landen wir in einer Tierarztpraxis. Dort wird ein unter ihrer Haut implantierter Chip entdeckt, und ich erfahre zum ersten Mal ihren Namen: Bella. Wie passend. Die Arztassistentin erreicht sogar ihr Frauchen per Telefon. Welch Glück, denke ich. Doch dann erfahre ich, daß die Besitzerin an ihrem „Haustier“ kein Interesse mehr hat. Sie hat die Nase von ihr voll, denn angeblich ist Bella eine Entfesselungskünstlerin. Nun müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob wir uns wieder einen Hund halten wollen. Mein Mann und ich entscheiden uns dagegen. Es ist ein ungünstiger Zeitpunkt.

     Außerdem will Bella sowieso nicht von uns adoptiert werden. In den folgenden Stunden demonstriert sie wiederholt ihre Fluchttendenz. Zunächst versucht sie, sich unter dem Gartenzaun durchzuwühlen, danach klettert sie über ihn hinweg, und trabt die Hintergasse entlang. Es gelingt mir, sie wieder einzufangen und ich bin dankbar und erleichtert, als sich ein anderes Ehepaar anbietet, sie entweder zu behalten, oder in ihrem Bekanntenkreis ein neues Heim für sie zu suchen. Dies scheint mir wünschenswerter, als sie ins Tierheim zu bringen. Aber kurz nachdem ich Bella bei dem Paar zurücklasse, kämpft sie mit deren Hunden, und ihr Hang nach Freiheit trumpft jegliches etwaige Verlangen oder Bedürfnis nach einem Zuhause. Bald darauf erfahren wir, daß ihr ein Tierfänger entlang einer belebten Straße heiß auf den Fersen ist. Ironischerweise wird das Tierheim jetzt doch noch eingeschaltet.

     Obwohl wir weniger als einen Tag miteinander verbrachten, kehre ich in Gedanken oft zu ihm zurück, und sehe Bellas eindringliche Augen vor mir. Eine Weile lang fanden wir gelegentlich noch weiße Borsten auf dem Teppich, die dem Staubsauger entkommen waren. Hätten wir sie doch behalten sollen? Selbst jetzt bezweifle ich, daß sie sich geändert hätte, selbst mit viel Liebe und Aufmerksamkeit, und wir waren einfach nicht auf das Drama einer täglichen Hundejagd vorbereitet.

     Ich frage mich, wo sie sich jetzt befindet, aber ich habe der Versuchung widerstanden, mich über den Ausgang dieser Episode zu erkundigen, die scheinbar nur eine in einer langen Reihe ähnlicher Eskapaden war. Stattdessen stelle ich mir vor, wie sie mit einer Meute Kojoten durch die Prärie, oder mit einem Rudel Wölfe durch Yellowstone zieht. Die Alternative ist zu traurig. Bella ist ein freier Geist, und naiverweise wünsche ich mir, daß es auf dieser Welt noch Plätze gibt, wo freie Geister wandeln können.

Klicken Sie bitte hier für die englische Version/click here for the English version:

https://tanjabrittonwriter.wordpress.com/2017/05/25/the-bella-saga/

4 Gedanken zu “Die Bella Saga

  1. Diese Augen haben mich das ganze Wochenende nicht losgelassen und nun möchte ich doch noch schnell etwas zu Bella schreiben. Ich finde es schwer zu ertragen, wenn Tiere eingesperrt sind, auch wenn ich weiß, dass es oft nicht anders geht. Freiheit ist so ein wertvolles Gut, ich wünsche Bella, das sie nie aufgibt, sich ihr Stückchen Freiheit zu suchen. Liebe Grüße, Ulrike

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